Donnerstag, 22. Januar 2009

Der unsägliche "Deutschuß"

Beim heutigen Schießtraining mußte ich (wieder einmal) bei einem gerade erst frisch aus dem Studium gekommenen Kollegen eine Schwäche feststellen, die ich in ähnlicher Form schon bei vielen "Frischlingen" bemerkt habe, die erst in den letzten Jahren ihre Ausbildung absolviert haben. Besagte Schwäche manifestiert sich regelmäßig darin, daß der betreffende Schütze bei Übungen (auch ohne Zeitlimit) auf Distanzen unterhalb von zehn Metern ziemlich schnell und anscheinend ziemlich ungezielt in die grobe Richtung des Ziels schießt, was in der Konsequenz natürlich zu einem Trefferbild führt, das bestenfalls als suboptimal zu bezeichnen ist. Auf Deutsch gesagt, es wird wild und weitgehend techniklos in die Gegend geballert.

Als neugieriger Mensch fragte ich natürlich bei den entsprechenden Kandidaten nach, warum sie das täten. Ich bekam zur Antwort, "Na ja, ich dachte, ich soll einen Deutschuß machen..." Als ich anregte, doch einfach mal die Visierung zu benutzen und sich vielleicht ein klitzekleines bißchen mehr Zeit zu nehmen, erntete ich mehr als einmal ein verdutztes Gesicht und die Frage, "Wie, du meinst, so richtig mit zielen? Das sollten wir im Studium immer nicht machen..."

Irgendwie konnte ich mir darauf aber keinen Reim machen. Also besorgte ich mir den Lehrplan und las die entsprechenden Inhalte selber nach. Man stelle sich meine Überraschung vor, als ich las, daß laut Curriculum im Studium tatsächlich visiertes Schießen nur am Rande behandelt und stattdessen schwerpunktmäßig der "Deutschuß", also ein reaktionsschneller unvisierter Schuß trainiert werden soll. Auf Nachfrage wurde mir das damit begründet, daß ein Anwärter im Praktikum ja aus rechtlichen Gründen nur in einer Notwehrsituation schießen dürfte (also nicht zur Verhinderung einer Flucht/Gefangenenbefreiung etc.) und daß deswegen dem visierten Schuß keine wirkliche Bedeutung zukäme.

Liebe Leute, das ist sowohl aus schießtechnischer als auch aus methodisch-didaktischer Sicht furchtbarer Blödsinn.

Zum einen sind "Deutschuß" und "visierter Schuß" keine exklusiven, sich gegenseitig ausschließenden Kategorien, in die jeder einzelne Schuß irgendwie reingequetscht werden muß. Tatsächlich stellen die vollständig unvisierte, ausschließlich aus dem Körpergefühl erfolgende Schußabgabe und der präzise visierte, einen messerscharfen Fokus auf die Visiereinrichtung legende Schuß jeweils ein unterschiedliches Extrem auf einer Skala dar, zwischen denen sich eine riesige Bandbreite von Zwischentönen befindet.

Es wäre unsinnig und methodisch höchst ungünstig, aus dieser Bandbreite willkürlich zwei Punkte auszuwählen und als absolute Werte zu verkaufen. Tatsächlich muß sich die Antwort auf die Frage, wieviel Gewichtung ich auf eine präzise Visierung lege, inwieweit ich die Visiereinrichtung meiner Waffe wahrnehme und wo ich mich auf der vorgenannten Skala bewege, jeweils einzelfallabhängig daraus ergeben, wie groß mein Ziel ist, welchen Grad an Präzision ich benötige und welche Zeit ich dafür zur Verfügung habe. Diese Entscheidung ist eine Erfahrungssache und verlangt Training (das der Schütze nicht bekommt, wenn er immer auf eins der beiden Extreme festgenagelt wird). Aufgrund meiner persönlichen, im Rahmen einer Vielzahl von IPSC-Matches und etlichen FX-Trainings gesammelten Erfahrungen bin ich der Ansicht, daß ab einer Entfernung von 3m zumindest eine grobe visuelle Überprüfung der Ausrichtung der Waffe erfolgen sollte. Ab einer Entfernung von etwa 6m ist eine reproduzierbare annehmbare Präzision ohne Verwendung der Visierung für die meisten Schützen ohnehin nicht mehr möglich.

Zum anderen wird offensichtlich vollkommen übersehen, daß die Fähigkeit, einen schnellen, präzisen "Deutschuß" (ich setze diesen Begriff bewußt in Anführungszeichen, weil ich seine Verwendung aus den vorgenannten Gründen für ungünstig und mißverständlich halte) abzugeben, nicht in erster Linie dadurch aufgebaut wird, daß man im Training viele schnelle "Deutschüsse" abgibt. Ein ganz oder weitgehend unvisiertes Schießen setzt voraus, daß der Schütze über ein sehr gut ausgeprägtes Muskelgedächtnis verfügt, das dafür sorgt, daß die Waffe im Moment der Schußabgabe auch ohne visuelle Referenz in der korrekten Position ist. Dieses Muskelgedächtnis entsteht aber - welch Überraschung - nur dadurch, daß der Körper die KORREKTE Bewegung etliche tausend Male in perfekter Form wiederholt.

Kurz gesagt, um erfolgreich ohne tatsächliches Visierbild schießen zu können, muß man zuerst einmal fundierte, robuste und streßresistente Fähigkeiten im visierten Schießen entwickeln. Die Entwicklung dieser Fähigkeiten wird aber durch die derzeit im Studium übliche Trainingsmethode nicht nur nicht betrieben, sondern sogar verhindert. Unter diesen Umständen ist es leicht zu erklären, warum derart viele Berufsanfänger erhebliche Defizite in ihren Schießfertigkeiten aufweisen und selbst bei relativ einfachen Drills wie der Kontrollübung aus der PDV 211 (teilweise massive) Probleme haben. Letztlich ist diese Praxis ungefähr das Äquivalent dazu, eine Person zum Sparring in den Ring zu schicken, ohne ihr jemals vorher am Sandsack boxerische Grundschläge vermittelt zu haben.

Nun mag der eine oder andere polizeiliche Schießtrainer, der sich in seinem doktrinären Ego gekränkt fühlt, einwerfen, daß ich ja den Zeitfaktor außer Acht lassen würde, und daß im Realfall ja überhaupt nicht die Zeit vorhanden sei, um die Visiereinrichtung benutzen zu können. Das stimmt aber nicht. Tatsächlich ist der einzige Faktor, der die Geschwindigkeit eines visierten Schusses im Vergleich zu einem unvisierten Schuß begrenzt, die Fähigkeit des menschlichen Auges, Ziel und Visiereinrichtung aufzunehmen und in Beziehung zueinander zu setzen, und diese Fähigkeit ist relativ einfach zu trainieren. Ich habe meine eigenen Zeiten mal mit einem Shot-Timer gemessen und festgestellt, daß ich selbst bei geschlossenem Sicherheitsholster und locker herabhängenden Armen im Durchschnitt nur etwa 1,8 Sekunden für eine gezielte Schußabgabe auf ein 6m entferntes Ziel benötige. Bei geöffnetem Holster und bereits gegriffener Waffe verringert sich die Zeit auf etwa 1,3 Sekunden.

Das Geheimnis liegt schlicht und einfach in der Art und Weise, wie ich meinen Ziehvorgang gestalte. Ich kann durch entsprechendes Training meine Ziehzeiten verbessern, aber letztendlich nur bis zu einem gewissen Grad. Was ich aber darüberhinaus tun kann, ist, die vom Ziehvorgang konsumierte Zeit besser zu nutzen und sie bereits für die Zielaufnahme und Visierung zu verwenden. Dies geschieht dadurch, daß ich die Waffe nicht einfach aus dem Holster rupfe und sie irgendwie von unten nach vorne/oben bringe, sondern sie stattdessen zuerst eng am Körper nach oben führe und sie unmittelbar vor meinem Brustbein mit der Nichtschußhand zusammenführe.

Dabei ist es wichtig, die Waffe schon in diesem Stadium so weit wie möglich nach oben zu bringen. Wenn ich dies tue, befindet sich die Waffe nämlich bereits zu diesem Zeitpunkt des Ziehvorgangs in meinem peripheren Sichtfeld. Von dieser engen, komprimierten Position ausgehend schiebe ich die Waffe nun vorwärts in einer nahezu horizontalen Bewegung in die letztendliche Schußposition. Da sie sich schon zu Beginn dieser Bewegung in meinem Sichtfeld befindet, kann ich schon zu diesem Zeitpunkt eine visuelle Referenz zum Ziel herstellen und die Waffe auf selbiges ausrichten. Je weiter sich die Waffe nach vorne bewegt, desto klarer wird sie für mich sichtbar und desto genauer kann ich Visierung und Ziel in Übereinstimmung bringen. Wenn die Waffe vorne angekommen ist, steht sie somit bereits perfekt im Ziel und ich kann ohne weitere Verzögerung oder optische Verifizierung abdrücken.

In seiner Gesamtheit betrachtet besteht der Ziehvorgang im Grunde aus zwei aufeinander folgenden Bewegungsvektoren, nämlich einem aufwärts gerichteten und einem vorwärts gerichteten. Dabei ist es von erheblicher Wichtigkeit, daß sie nicht miteinander vermischt werden, d.h. die Waffe geht erst in die Vorwärtsbewegung über, wenn sie sich hoch vor der Brust befindet und die Nichtschußhand einen festen Griff erreicht hat.

Das klingt zunächst recht kompliziert, ist es aber eigentlich nicht. Mittels konsequentem Trockentraining (zunächst langsam, später mit zunehmender Geschwindigkeit) gelingt es auch ungeübten Schützen erfahrungsgemäß relativ schnell, das motorische Prinzip zu verinnerlichen, die Bewegung flüssig zu gestalten und eine schnelle und sichere Zielaufnahme und Visierung zu erreichen. Eine Videodarstellung und Schritt-für-Schritt-Erläuterung dieses Bewegungsmusters findet sich hier. Für weitere detaillierte Informationen empfehle ich die in diesem Blog bereits vorgestellte Trainings-DVD "Fighting Handgun" von Craig Douglas, der diese Methodik maßgeblich geprägt hat.

Bis jetzt konnte ich bei jedem Trainingsteilnehmer, dem ich diese Methodik vermittelt habe, eine sofortige erhebliche Verbesserung feststellen. Und vor allem - und das halte ich für recht wesentlich - wurden ihre Trefferbilder schlagartig reproduzierbar. Die Teilnehmer machten (teilweise zum ersten Mal) die Erfahrung, daß ihre Schießergebnisse plötzlich berechenbar, nachvollziehbar und auf Kommando wiederholbar waren.

Insofern ist es in meinen Augen an der Zeit, das Konzept "Wir trainieren den Deutschuß bis zum Abwinken" in die Ablage (rund) zu befördern.

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